Als Lektor bevorzuge ich Gedichte, in denen gezeigt und nicht beschrieben wird. Dabei handelt es sich um einen haarscharfen Unterschied, der sich manchmal in eine klaffende Kluft öffnet. Dieser Unterschied könnte durchaus als der Unterschied zwischen Prosa und Poesie bezeichnet werden. Ich möchte im Folgenden diesen Unterschied genauer festhalten.
Beschreiben
Wer beschreibt, will meist möglich genau widergeben, was ist. Das heisst, visuelle, auditive, haptische und olfaktorische Eindrücke sollen verarbeitet und darauf mittels Sprache ausgedrückt werden. Allein in dem vorhergehenden kurzen Satz wird klar, wie schwierig dieses Unterfangen ist. Und wie subjektiv: nicht nur dadurch, dass dir beim Beobachten vielleicht wichtige ‹Indizien› entgehen (Augenzeuge), sondern auch dadurch, dass du bereits in der Wiedergabe, der Darstellung abwägst, deutest, wertest und urteilst. Und je genauer du zu beschreiben versuchst, umso stärker greifst du in das Wiedergegebene ein. Das könnte etwa so klingen:
‹Es war ein furchtbarer Novembermorgen. Es nieselte und schneite gleichzeitig. Die Asphaltfläche des grossen Parkplatzes war feucht und schimmerte in Silbertönen. Nur ein Auto stand auf dem Parkplatz, ein grauer PKW mit einer Delle auf der Fahrertür, die bereits halb durchgerostet war. Die kleinen Linden in ihren Aussparungen waren kahl und sahen kleiner als sonst aus, fast buschig. Es war sehr still an diesem Novembermorgen. Die Türe des Autos öffnete sich. Ein Frauenschuh zeigte sich im Regenlicht.›
Zeigen
Im Gegensatz nun zum Beschreiben handelt es sich beim Zeigen um eine indirekte, fast uneigentliche Darstellung. Dabei konzentrierst du dich weniger auf den Gesamteindruck, sondern vielmehr auf Details, Einzelheiten, auffallende Eigenheiten und Merkmale des Beobachteten, das du darstellst. In dem Versuch, statt einer genauen Beschreibung den Eindruck, die Empfindung oder die Stimmung, die das Beobachtete in dir auslöst, auszudrücken, musst du auswählen – und genau auswählen. Es handelt sich hier sozusagen um ein ‹Pars pro Toto›: du nimmst ein Detail und zeigst damit alles, weist damit auf alles darum und darin Eingeschlossene und Mitgemeinte hin.
Im Allgemeinen kannst du davon ausgehen, dass die meisten Leser und Leserinnen sowohl das Beobachtete oder die Situation entweder ebenfalls ähnlich erlebt oder aber dieselbe nachempfinden können. Du redest also zu Eingeweihten, Komplizen.
Natürlich ist die Auswahl des zu Zeigenden subjektiv, sollte aber unbedingt empirisch sein, will heissen: es muss der logisch nachvollziehbaren Situation entsprechen. Keinesfalls sollte das oder die gewählten Bilder unlogisch in sich sein.
Wenn du zeigst statt beschreibst, kann sich das Gezeigte im besten Fall sogar in eine Metapher verwandeln, im allerbesten Fall in eine ‹Metapher mit Oberton›: eine Metapher also, die eine Doppelfunktion oder eine Doppelbedeutung hat.
‹Der Abgrund des Parkplatzes schimmerte
Und Linden reckten ihre hundert
schwarzen Zungen daraus
Noch erreichten sie nicht
Das eine schadhafte Auto
Und der Abgrund schluckte
Den hohen Schuh aus der Türe.›
29.1.2020 OF