‹Zeilensprung in den Himmel› 
Mit ‹Mund und Amselfloh› legt der Autor Sascha Garzetti seinen dritten Lyrikband vor, der im Wolfbach Verlag Zürich erschienen ist. Schon der Titel mit dem Wort ‹Amselfloh› lässt aufhorchen. Was hat es damit auf sich? Gibt es sie tatsächlich, Amselflöhe, die womöglich im Gefieder von Amseln nisten? Nein, denn mit grosser Wahrscheinlichkeit haben wir es hier mit einer Neuwortschöpfung zu tun, die den Titel zum Eye-Catcher macht. 

Nebst Privatem und Zwischenmenschlichem spielen vor allem das Naturhafte, sowie Beobachtungen aus dem Alltag eine tragende Rolle in Garzettis Gedichten. Bis auf wenige Ausnahmen kommen sie ohne Titel aus und sind in dreizehn Kapitel gruppiert. Unter ‹Vielleicht kann, wenn wir reden, etwas aus uns werden›, ruft der Autor mit poetischem Blick und bildstarken Sequenzen frühe Lebensjahre in Erinnerung. So heisst es in einem Gedicht, das er seiner Grossmutter widmet: Der Mond dein blassestes Kind, / das Nachthemd zu weit, // wie ein Segel trägt es dich / nachts aufs Meer. Fantasierend werden hier in engelhaft anmutenden, nostalgisch wirkenden Bildern Kindheitserinnerungen heraufbeschworen.
Auch seinem Grossvater widmet Garzetti ein Gedicht, das sich mit dessen Tod befasst: Der Tod kam am ersten Mai, / an einem Mittwoch. // Wie lange er an seinem Bett saß, / wissen wir nicht. Das lakonisch und trotzdem berührend endet: Und wir dachten, sein Lächeln / gälte uns. Darüber hinaus ist oft die dichterische Sprache selbst themengebend. 

Ein Netz aus wiederkehrenden Begriffen wie ‹Wörter›, ‹Verse›, ‹Mund›, und ‹Lippen›, spannt sich zu einem Paradigma. Wendungen aus einzelnen Gedichten, die zugleich als Untertitel fungieren, wie etwa: ‹Als neigte sich die Nacht zur Sprache hin› oder ‹Die Versfüsse der Spatzen› und ‹Wortbruch, Fundstück› sind exemplarisch und machen die Allgemeinsprache zum poetischen Ausdruckmittel. Oder wenn Ameisen entlang am Stamm ihr Verschwinden proben und sich in Versen hinauf in die Krone winden und den Zeilensprung in den Himmel wagen.
Obwohl Garzetti sich eines zeitgemässen sprachlichen Duktus bedient, fehlt es an wagemutigen Sprachexperimenten, an kryptischen Irritationen oder an hermetischen Bildern. Dies jedoch macht die Texte umso zugänglicher, zumal sie von einem gleichmässigen Rhythmus getragen werden.

Zudem sind die Gedichte meist in sich geschlossen und enden offen, teils mit Negationen oder mit Vergewisserungen, wie im Gedicht ‹Heimzu›: Über dir raschelt die Nacht, / eine Zeitung, die durch viele Hände ging. // Einer flucht in die Dunkelheit. / Die Sterne sind alle / noch da. Nicht selten ist das lyrische Ich ein Erzählendes, wenn es beispielsweise aus einem Gedicht des italienischen Lyrikers Pietro De Marchis zitiert, in dem die Sonne Siziliens hinter einem Orangenpapier aufgeht. Oder es positioniert sich unmittelbar als erlebendes Ich oder verschwindet als entpersönlichtes ganz im Hintergrund

Was dagegen nicht in den Hintergrund tritt, sind die Orte, beziehungsweise die allseits bekannten Städte, in denen das Unspektakuläre zur Metapher gerinnt. Besonders schön verdeutlicht der Autor dies am Beispiel einer Alltagsszene in Istanbul im Kapitel ‹Möwe und Muezzin›, wenn er auf der Galatabrücke am goldenen Horn die Angler mit ihren Ruten als ein Heer mit Spiessen imaginiert, die zu kurz sind, um Barsche und Barben im Meer zu fangen. An einer anderen Stelle nimmt er uns mit in den hohen Norden nach Oslo und Stockholm: Am Steg liegen / die Schiffe vertäut. // Ihnen wächst / das Eis ans Herz. Ein poetisches Bild fürwahr, das zwischen Wirklichkeit und Trug oszilliert, ein surrealer Hauch, wenn man so will. In diesem Zusammenhang darf auch Czernowitz nicht fehlen, der Geburtsort von Paul Celan oder Schauplätze von Paris deren Zwischenräume sichtbar, ja atmosphärisch aufgeladen werden. Selbst Sils Maria mit seiner jahrhundertealten Tourismusgeschichte wird in Betracht gezogen und das natürlich in Anspielung auf Friedrich Nietzsche, der jeweils zur Sommerzeit im Oberengadin residierte, wenn es heisst: Am Grat lichtert / die Gestalt des Philosophen. Überdies würdigt der Autor Persönlichkeiten wie Gertrud Stein, Henrik Ibsen, Tomas Tranströmer, die das Literaturgeschehen mehr als nur bereichert haben auf seine Art. Sogar Alfred Escher, weder Literat noch Philosoph, erhält in einem Gedicht vor der Zürcher Bahnhofshalle seinen Auftritt, jedoch in Bronze gegossen, aber immerhin mit prophetischem Bart.

Präzise Beobachtungen, festgehalten in poetischen Bildern, ziehen sich durch den Gedichtband. Und wenn auch leise, klingen da und dort Merz’sche Töne an. In Anbetracht dessen, dass der Autor seine Masterarbeit über Klaus Merz’ Lyrik geschrieben hat, überrascht dies nicht. Herausgekommen ist ein Lyrikband voll sinnlicher Metaphorik, woraus sich uns eine reizvolle Bild-Artistik eröffnet, die an Facettenreichtum nichts zu wünschen übrig lässt. Hier wird die Realität einzigartig ästhetisiert und vielleicht lässt sich mit den Worten sogar an eine Türe klopfen, hinter der sich die Geheimnisse des Lebens verbergen, denen dieses Buch nachspürt.

PRO LYRICA Cornel Köppel  


Sasha Garzetti
‹Mund und Amselfloh› –
Die Reihe Bd. 54
Wolfbach, 2018, 88 Seiten, 
ISBN 987-3-906929-15-6


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