Poetik der Idiotie
Rezension von Oliver Füglister, 1.1.16



‹Das Risiko der Idiotie›, Monika Rincks poetische Streitschriften-Poetiken, sind etwas für Betroffene – ob unmittelbar durch das Unverständnis oder unwillkürlich durch den Laut des Gedichts. So oder so handelt es sich dabei meist um Klugscheisser (seien wir mal ehrlich) – intellektueller oder affektiver Natur. Poetiken, folgt daraus, werden also für mehr oder minder in der Art der Verarschung, Veräppelung, Irre- und Hinterslichtführung sowie der Manipulation geübte (bewanderte?) Klugscheisser geschrieben – denn nur die Klugscheisser haben die dafür nötigen Abwehrmechanismen. Doch ob Regression oder Sublimation: Alle Betroffenen kennen sich unglaublich und manchmal sogar unerwartet mit der Materie aus – nicht nur als Betroffene, sondern als Leidende.

Monika Rinck nun schreibt Streitschriften zur Verteidigung des Unsinns, des Witzes, des wie immer nur scheinbar Sinnentleerten oder des wie immer nur gegen aussen Verschlossenen des modernen Gedichts. Diese Essais sind buchstäbliche Kampfansagen an die Erwartungshaltungen jeglicher Couleur. Da betritt der Betroffene einen sicher geglaubten, vielleicht nicht versicherten, aber doch vermutlich sogar gesichert geglaubten Steg und wird (wie kann es anders sein) gebeutelt und geachterbahnfahrt: unmittelbar mit den ersten Sätzen dieses Buchs beginnt eine intellektuelle und affektive Geisterbahnfahrt durch die Werkstatt der Jahrhundert-Poetiken. Da wird geBAUDRILLARt und geFOUCAULt, geSTERNEt und paraphrasiert, was das Papier hält, das dem Dichter die Bretter der Welt, da wird die Leserin geduzt und gesiezt im selben Atemzug, liebevoll appelliert und bösartigst verulkt, alles hochgelehrt und durchaus von literaturwissenschaftlicher Relevanz durchdrungen; und von Adorno über Bergson und Hegel und Jandl bis zum ollen Salomo werden alle möglichen und unmöglichen Koryphäen einbezogen und an der Nase und am Schwanz (des Hundes) herbeizitiert, dass dem Betroffenen zeitweise und allmählich speiübel wird vor lauter Erudition, und jeglicher Sinn allmählich und zeitweise erodiert ...

Lesenswert, halb belustigt und halb belustigend, in allen Modulationen und Temperaturen und Stilebenen; vom Witz bis zum Sinnspruch. Und stets wie der Ritt übern Bodensee oder an den Erlen vorbei: die Gefahr des Eis- oder Ausbruches bewusst präsent gehalten in jedem Moment, gar im simplen Akt des Umblätterns. In all diesem karnevalistischen Treiben der Autorin scheint ein Bedürfnis deutlich durch: jenes nach Narrenfreiheit und Narrentum in der Lyrik (und seiner dringend nötigen Beachtung), einer Narretei jedoch, die durchaus ‹ernste›, will heissen: menschlich oder gesellschaftlich wichtige Themengebiete bewusst nicht zu verschonen vorhat: eine Idiotie, kurzum, die weder Scheuklappen trägt noch Fettnäpfchen scheut (wer nichts wagt, der nichts gewinnt) und fast schon burlesk oder grotesk das Komödiantische ins Tragische und zurück zu wenden bereit und fähig ist. Zwei Beispiele dafür: die unerwartete Aktualisierung von Büchners ‹Woyzeck› im Lichte des modernen Arbeitssklaventums, und die Erkenntnis, dass der Witz, obwohl er den Sinn-Riss im Gesagten betont, grade darin und dadurch die zwei für die Vernunft geschiedenen Gegenstände verbindet.
Dabei ist es immer wieder spannend, auch als Betroffener ertappt zu werden über den eigenen Schrecken, wenn einem das Lachen buchstäblich im Hals stecken bleibt über die unerwarteten Wendungen und – ja! – Kunststücke einer (dieser) modernen Poetik. (Ob diese moderne Poetik aber zugänglich ist, d.h. kein elitäres Vehikel, Verhalten und Verfahren, was ja bekanntlich bei Witzen und Slapstick-Vorführungen immer möglich ist, die sich oft nur den ‹Eingeweihten›, den ‹Insidern› erschliessen, muss hier doch bezweifelt werden...) Der Betroffene leidet und freut sich gleichzeitig über die ihm von dieser hochgeistigen und tief unernsten (bis zum höchsten? Ernst) Scharlatanerie geschlagene Wunden. (Betroffene oder Klugscheisser, unter uns und ganz nebenbei, sind ja meist masochistische Wesen, die können fast nicht anders: das Salzlecken aus den Wunden so gewohnt wie das Atmen ...)

Das wortwörtlich Schillernde dieser ‹miscellania› befeuert und ereifert, aber lässt den Betroffenen, leider und Gottseidank, wie der gute Witz und der gewöhnliche Orgasmus durstig und hungrig, bedürftig zurück, versehrt und belehrt; eben, wie der Franzose so schön sagt: ‹on reste sur sa faim› (man bleibt auf seinem Hunger hocken)...
Ob sich da das Risiko der Autorin gelohnt hat? Unterhaltsam für den Betroffenen, der ja der Idiotie mit seiner Neigung zur Poetik oder Poesie ohnehin fast verpflichtet oder besser verhaftet ist, aber für den Normalo unter den Lesern, den eine solche Poetik ja geradezu einzufangen und ‹im Schwitzkasten› zu überzeugen versuchen müsste? Der wird dieses schön designte, dieses fast ein wenig zu sehr in Design und Inhalt verliebte Buch nach oder vielleicht schon vor der ersten Seite zur Seite legen, wenn nicht gar werfen...

Aufklärung ist Information, nicht Desinformation (wenn auch in unserem Falle deklarierte Desinformation!), Aufklärung will den Schlüssel reichen für die Türe hinaus. Oh, ein Schlüssel ist das Buch gewiss, und wie!, aber überm Staunen über den gelehrten affektiv und intellektuel gekünstelt-manierierten Schlüsselbart vergisst manchmal selbst der Betroffene (ich würde sogar sagen: der Betroffenste oder besser noch: der hier schreibende Klugscheisser!) die Türe, die doch weithin sichtbar offen steht (oder offen zu stehen scheint?) ...
 

Das besprochene Buch: Monika Rinck: Risiko und Idiotie. Streitschriften, Berlin 2015.


Zurück zu den Rezensionen