Gedicht

Das Gedicht ist, ähnlich dem Kakerlaken, eine der widerstandsfähigsten Lebensformen. Weder Wohlstand noch Armut, weder Sicherheit noch Gefährdung konnten seinem Leben bisher etwas anhaben. In Auschwitz entstanden Gedichte genauso wie in Genf, und sie entstehen auch weiterhin, ob in Karachi oder in Wien. Die Frage jedoch, was ein Gedicht ist, ist weder mit Genauigkeit noch mit Ausführlichkeit zu beantworten. Selbst die Dichter sind sich in ihren jeweiligen poetologischen Versuchen unschlüssig und uneinig. Eine solche amorphe Identität ruft notwendigerweise zwei gegensätzliche Deutungsansätze auf den Plan: Während die einen allem, das einen Vers oder einen Anschein von Vershaftigkeit sowie eine einigermassen bewusste Sprachbehandlung aufweist, den Namen Gedicht geben möchten, würden die andern gerne eine abschliessende und erschöpfende Definition des Gedichts geben, die alle geschichtlich herangebildeten oder bekannten Eigenschaften erfasst. Die einen machen alles zum Gedicht, die andern nichts – oder das Wenigste. Hier soll es uns genügen, wenigstens zwei besonders wichtige Merkmale anzusprechen, die ein Gedicht auszeichnen können.

  • Ein Gedicht sollte in Versen geschrieben sein, also über einen Zeilenfall verfügen. Dies heisst jedoch noch nicht, dass dieser Zeilenfall auch prosodisch begründet sein muss. (Das Jammern der Schafe auf der Weide / Störte den Hirten nicht beim Einschlafen vs. Das Jammern der Schafe auf der Weide störte den Hirten / Nicht beim Einschlafen.)

  • Ein Gedicht kommt aus der Sprache. Es ist bewusst geformte Rede oder Schrift, deren erstes Subjekt die Sprache selbst ist. Es strebt demnach erst in zweiter Hinsicht eine Sinngebung an. (Ein Gedicht muss daher nicht unbedingt zum Vortrag gedacht sein; man denke nur an die Visuelle Poesie!)  OF

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