In dieser Rubrik stellen wir Ihnen in unregelmässiger Reihenfolge, aber kontinuierlich, die kleineren und grösseren tektonischen Bewegungen und seismischen Erschütterungen in der deutschsprachigen Lyrik vor. 


Gedichte werden das Klima retten
Verse sind umweltfreundlich, sie heben die Stimmung und sind nachhaltig. Eigentlich spricht in unseren Tagen alles dafür, sich häufiger in Gedichten zu verlieren

Man kann seine Zeit auf viele Arten vertun. Die einen verdienen Geld, das andere beidhändig zum Fenster hinauswerfen. Einer sammelt Briefmarken aus Grönland, ein Zweiter schaut den Vögeln nach, während eine Dritte schliesslich eine vergleichende Sozialstudie über die ersten beiden schreibt. Am Ende des Tages sinken sie alle erschöpft ins Bett. Haben sie die Zeit vergeudet? Vehement würden sie es bestreiten. Indessen hätten sie noch einiges zu lernen in der Kunst der Zeitverschwendung, deren Königsdisziplin das Lesen ist. Sorgloser und verschwenderischer aber geht man mit der Zeit nie um, als wenn man Gedichte liest. Weiterlesen

Rhythmicalizer: Die Prosodie eigenrhythmischer Gedichte
Ein Grossteil der Gedichte, die der modernen und postmodernen Lyrik zugeschrieben werden, weisen weder einen Reim noch ein festes Metrum auf, wie es in klassischen Gedichten der Fall ist. Dennoch sind die freien Verse der modernen Poesie nicht frei von rhythmischen Strukturen. Dies behauptet zumindest die US-amerikanische Theorie der freien Versprosodie (free verse prosody). Das Projekt ‹Rhythmicalizer› will diese Theorie auf der Grundlage einer digitalen Musteranalyse überprüfen. Das Projekt wird von Informatikern und Literaturwissenschaftlern der FU Berlin, der Carnegie Mellon University in Pittsburgh in Zusammenarbeit mit dem weltweit bekannten Internetportal ‹lyrikline› durchgeführt. Ein hoch interessantes Projekt, zumal der Ausgangspunkt des Projektes eine Forschungsdiskussion ist, die bis heute in der Germanistik nicht einmal ansatzweise aufgenommen worden ist. Weitere Informationen zum Projekt unter FU Berlin sowie lyriklineCK



Gedichte wissen mehr

In einem beachtenswerten Artikel befasst sich der Lyrikkritiker Michael Braun, Gewinner des Alfred-Kerr-Preises für Literaturkritik 2018, mit der Schwierigkeit nicht nur des Gedichteschreibens, sondern vielmehr noch mit der Ertragslosigkeit der Lyrikkritik. Er greift auf Konzepte von Günter Eich und Ilse Aichinger zurück und bietet einen kurzen Einblick in die schwierige (?) Welt wirklich herausfordernder Lyrik. Dabei fordert er mit dem Dichter Peter Waterhouse, das Ziel guter Lyrik sei es, ‹das Deutsche wieder unbekannter zu machen›.  OF


Es gibt die Zukunft auch als Gedicht
Eine Kolumne von Niklaus Peter
Das Magazin N°6– 10. Februar 2018

Kürzlich habe ich ein intelligentes, witziges und zugleich ernstes Gedicht des amerikanischen Poeten J. R. Solonche aus dem elektronischen Ozean herausgefischt: ‹The Poem of the Future›* beschreibt das künftige Gedicht wie ein noch in der Konzeptphase befindliches Mobiltelefon.

Das Gedicht der Zukunft, so imitiert Solonche den Sound des kompetenten Zukunftsexperten und Technologiescouts (aber eben in der dichterisch raffinierten Alltagssprache moderner amerikanischer Lyrik), werde kleiner sein, gut in der Hand liegen und auch am Arm oder Ohr tragbar sein. Es werde keine dicken Batterien brauchen, von Mondlicht angetrieben sein und deshalb monatelang problemlos laufen. Aus edlen Kunststoffen und seltenen Metallen gefertigt, werde es in vielerlei Farben und Formen zu kaufen sein. Das Gedicht der Zukunft, so wechselt der Poet Solonche dann die Tonlage und wirbt wie ein pastoraler Werbetexter, werde unser Leben wahr machen, es werde in einer Sekunde das leisten, wofür ein Gedicht heute noch einen ganzen Tag brauche. Es werde zu uns sprechen und Dinge sagen wie: ‹Kaufe IBM-Aktien›, ‹Sei mein Freund› oder: ‹Pulvis et umbra sumus› (Staub und Schatten sind wir – es kann sogar Lateinisch…)

Grossartig witzig und tiefsinnig, wie hier das ‹Gedicht der Zukunft›, Zeile für Zeile unsinniger werdend, als ultramodernes Kommunikations- und Produktivitätstool vor unserem inneren Auge zusammengebaut wird. Beim Lesen ist es mir so ergangen, dass ich zugleich lachen und leer schlucken musste ob dieser schrägen und doch so klugen Idee: Mit jeder Zeile nämlich zeichnete sich für mich stärker ab, was ein gutes Gedicht tatsächlich ‹bringt»: Ruhe – durchaus keine noch grössere Geschwindigkeit –, Konzentration – aber durchaus keine Miniaturisierung, keine Output-Steigerung, keine stets neuen Meldungen und Durchsagen; all die Push-Meldungen sind ja jetzt bereits eine echte Landplage …

Wohltuend, wie beim Lesen genau das aufscheint, was ein gutes Gedicht für uns sein kann: ein fragiles Wortkonstrukt, das eine unverwechselbar individuelle Wahrnehmung hervorruft, Gefühle und Stimmungen, einen noch nie gedachten Gedanken, ein überraschendes Bild. Sprachlich präzise gebaut, machen Gedichte etwa mit uns. Sie verändern unsere Zeiterfahrung, sie geben und nehmen uns Zeit, indem sie uns ohne viel Federlesens einladen, ruhig zu sitzen, uns auf sie einzulassen, genau zu lesen.

Stellen wir uns vor, Solonche hätte auch das ‹Gebet der Zukunft› als Ultraminirechner mit Telefonie- und TV-Funktionen (und vielem mehr) beschrieben! Die Fantasie des Poeten lässt uns eine zarte Stimme aus dem verwirrenden Geräuschteppich beschwörender Werbesprache heraushören. Und was die Stimme uns zuflüstert ist: Schau mal, was Gedichte können und uns an Wahrnehmung eröffnen, wenn nicht alles schneller und noch besser und multitaskiger werden muss.

Publikation mit freundlicher Genehmigung des Autors sowie des Magazins.
* Das Gedicht im englischen Original z. B. auf: carbonculturereview.com

 


Das gedicht der zukunft wird kleiner sein.

Es wird in deine hand passen
An dein handgelenk, in dein ohr.

Das gedicht der zukunft wird nicht benötigen
Geblähte batterien oder umständliche drähte.
Es wird angetrieben sein von mondlicht und gras.

Das gedicht der zukunft wird automatisch sein.
Es wird während monaten ohne regelmässige instandhaltung funktionieren.
Es wird schneller sein, aalglatt, mit einem schuss ‹digital›.

Das gedicht der zukunft wird leichter sein.
Es wird aus plastik und exotischen metallen hergestellt sein.
Es wird in hundert verschiedenen formen und farben erhältlich sein.

Das gedicht der zukunft wird unsere leben verwirklichen.
Es wird innerhalb einer sekunde das vollziehen
wozu das gedicht von heute einen tag braucht.

Das gedicht der zukunft wird zu uns reden.
Es wird sachen sagen wie ‹für mich und dich› und ‹like mich›
Und ‹pulvis et umbra sumus›.

übersetzt von Oliver Füglister


 

Woran erkennt man ein Gedicht?
Was ein Gedicht ist, wissen wir schon – nur leider nicht so genau. Der Verleger und Schriftsteller Jochen Jung versucht, das kleine ‹Biest› zu fassen. In 31 Sätzen.
Jochen Jung  ZOE


 

Andreas Thalmayr ‹LYRIK NERVT!›
Ein Erste-Hilfe-Buch für alle, die meinen, dass sie nichts mit Gedichten anfangen können

Endlich ein Buch das lustvoll und witzig in die doch eher trockene Materie der Gedichtbaupläne einführt. Wer Gedichte schreibt die sich reimen, andere auch, kommt an diesem Lehrmittel nicht vorbei. Gerne verweise ich auf einschlägige Rezensionen von kompetenter Seite, siehe unten.  ZOE

Perlentaucher 
bücher.de



Was tun für das Gedicht?
An einem internationalen Lyrik-Colloquium, das jüngst in Beneditkbeuren stattfand, diskutierten fast 40 Lyrikerinnen und Lyriker über die Zukunft des Gedichts. Dabei wurden verschiedene Positionen deutlich, vom Wunsch nach einer (auch politisch-gesellschaftlich) engagierteren Lyrik bis hin zu heutzutage notwendigen Online-Selbst-Vermarktungsstrategien.  OF


Das prekäre Künstlerleben
Wie prekär es sich als Journalist oder Schriftsteller lebt, glauben die meisten Leser zu wissen. In einem lesenswerten Artikel der NZZ untersucht die Journalistin Sieglinde Geisel die verschiedenen Möglichkeiten und Initiativen für ein angenehmes, finanziell gesichertes Leben als freischaffender Künstler oder Autorin. Dabei wirft sie ein Schlaglicht auch auf die neuen Publikationsformen und die Arbeitsweisen (Überlebensweisen) der im Selbstverlag schreibenden Autorinnen und Autoren.  OF


Das Los der kleinen Verlage
Wie arg Verlage zu kämpfen haben im aktuellen Marktumfeld, ist spätestens seit einiger Zeit bekannt, als sogar Diogenes auf die Teilnahme an einer der grossen Büchermessen Deutschlands verzichtete. Dass auch Kleinverlage in diesem Umfeld überleben, ist immer wieder ein kleines Wunder. In einem lesenswerten Interview in der Süddeutschen Zeitung gibt der Herausgeber der Zeitschrift ‹Das Gedicht›, Anton G. Leitner, Auskunft darüber.  OF


Die Lyrik – ein Hor(s)t der Missverständnisse?
Der junge Lyriker und Essayist Timo Brandt publiziert regelmässig einen Blogeintrag unter dem Titel Poesie. Meditationen. In seinem jüngsten Eintrag (Über das Mögliche, den Geschmack, den Horizont und das Versagen der Worte) macht er sich nun Gedanken darüber, was mit schwierigen, will heissen: unverständlichen Gedichten anzufangen sei / ist. Das haben die meisten unter den Lesern und manche Lyrikerin schon erlebt, dass sie ein Gedicht lieber erst morgen lesen möchten, weil es so unverständlich oder anders gesagt: unzugänglich ist (oder scheint). Ein spannender Beitrag zum Thema moderne Lyrik lesen - nur wie?!


Ein Zuviel an Büchern mit einem grossen Ja, aber
Es gibt diese wundervolle Geschichte aus Cortazars Geschichten von den Cronopien und Famen, in der die Welt buchstäblich von den zu vielen Büchern vernichtet wird. Denn in dieser Zukunft liest niemand mehr, aber alle schreiben. Diese Zukunftsvision aus den frühen 60-er Jahren erscheint heute fast gespenstisch real.


Geschichte des Sonnets
Ein spannender Vortrag der amerikanischen Dichterin Lind Gregerson über die Entstehung und Bedeutung der berühmten Gedichtform des Sonnets: History of the Sonnet 


Moderne Poetik(en)
Das im letzten Jahr erschienene Buch ‹Risiko und Idiotie der Dichterin Monika Rinck ist eine spannende, allen lyrikaffinen Lesern und natürlich vor allem den Dichterinnen und Dichtern ans Herz (bzw. an die Feder) zu legen... Unser Lektor Oliver Füglister hat das Buch gelesen und eine imatitiv-ironische Antwort-Rezension geschrieben...
Sie finden die Rezension unter dem Titel Poetik der Idiotie in der neuen Rezensions-Unterabteilung ‹Andere›


Instant-Lyrik von jungen Dichtern!
Superstars auf Instagram... Das Ausgeh-Magazin des Gratisblättchens 20minuten präsentiert drei Instagram-Poetinnen, die ihre Gedichte auf Foto-Basis veröffentlichen. Dabei handelt es sich um Kurzpoesie, die viele Leser findet. Meist emotional und heftig, kontrovers und amüsant.  OF


Diese alte Geiss! Robert Walser übersetzt Verlaine...
Ein sehr lesenswerter Artikel in der Paris Book Review über Robert Walsers scherzhaft-ernste Übersetzung eines Verlaine-Gedichts. Was für ein Können! Voller Ironie und, wie immer bei Walser, gleichzeitig ungeheuer ernst.  OF


Radiosendung ‹Schnabelweid› widmet sich dem Mundart-Rap
Wurde aber auch mal Zeit: die Rapper rappen rundherum Dialekt und reimen, versieren in der Heimatsprache. Das geht von Müslüm, der eine Art arabologisches Berndeutsch sprechsingt, bis zu 361 Grad, einer St. Galler Rapcombo, oder dem Churer Rapper Ali. Dabei geht die Dialektsendung auch neuen, genre-typischen Schweizerdeutschen Slang-Ausdrücken wie ‹Lauch› nach...  OF

Zum Nachhören hier klicken.


Thomas Kunst: ‹Kunst› – Neuerscheinung
Einer der grössten deutschsprachigen Lyriker, der ergreifende, originelle, raffinierte, direkte und vor allem sprachlich hochstehende Gedichte schreibt, publiziert jetzt einen Rückblick auf 20 Jahre Schaffen: Thomas Kunst. Lesen Sie hier eine erste Rezension; bald folgt eine Pro Lyrica-eigene Rezension von unserem Lektoren Oliver Füglister. Das Buch ist u.a. auch bereits auf Books.ch erhältlich.  OF


... ins Zentrum
Nachdem Jan Wagner mit seinen ‹Regentonnenvariationen› den Leipziger Buchpreis gewonnen hatte, ging ein Raunen durch die Feuilletons deutscher Sprache. War die Lyrik wieder erweckt worden? War sie gar nie gestorben? Weshalb hatte man sie gar nicht wahr genommen? Jan Wagner selbst sah sich nur als Spitze des Eisbergs›, als einer unter vielen, die einen Aufschwung im lyrischen Tun vorantrieben und begeistert daran mitwirkten. Die Schriftstellerin Nora Bossong erwidert auf dieses Geunke und Gemunkel in der Zeit mit einem vehementen Artikel, der Lyrikerinnen und Lyriker auffordert, endlich ans Tageslicht zu kriechen, vom Turm herunterzukraxeln und nicht länger Rapunzel zu spielen. Sehr lesenswert.  OF

Dichter, traut euch ins Zentrum!
Dürfen Gedichte populär sein? Der Erfolg von Jan Wagners ‹Regentonnenvariationen› regt viele Lyriker auf. Doch Randständigkeit ist kein Lebensprinzip der Poesie, findet Nora Bossong in DIE ZEIT Nr. 22/2015, 11. Juni 2015


Dichter, traut euch ins Zentrum!
Dürfen Gedichte populär sein? Der Erfolg von Jan Wagners Regentonnenvariationen› regt viele Lyriker auf. Doch Randständigkeit ist kein Lebensprinzip der Poesie, findet Nora Bossong. DIE ZEIT Nr. 22/2015 11. Juni 2015

Es gab einmal eine Zahl, die Enzensbergersche Konstante hiess: Auf etwas mehr als tausend Leser schätzte der Dichter Hans Magnus Enzensberger 1989 den potenziellen Radius eines Gedichtbandes in Deutschland. Wer all diese Menschen erreicht, hat einen lyrischen Bestseller vorgelegt, man darf applaudieren. In diesen Verhältnissen hat man sich seither eingegroovt. So ist sie eben, die Lyrik, klein, drollig, zu vernachlässigen.

Als Dichter nimmt man dieses Image zähneknirschend hin – so lange jedenfalls, bis auf einer Lesung der Moderator in pädagogisch engagiertem Ton verkündet, es müsse mehr Lyrik gelesen werden, und ob das nun auch in der hintersten Reihe angekommen sei. Dann weiss man endgültig, dass man nicht auf einer Literaturveranstaltung, sondern auf einer Tierschutzvereinssitzung gelandet ist. Das Unangenehme daran ist, dass man selbst das aussterbende Tier darstellt, das partout gerettet werden soll. Das Publikum schaut barmherzig zu einem auf, und in solchen Momenten frage ich mich, warum diese Armen denn bloss Lyrik lesen müssen.